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Organisches Lernen




"Mama, nein, das ist zu leicht!". Ich versuche die Rakete unter Wasser so zu plazieren, dass sie ein bischen weiter weg vom Rand auf dem Boden landet. "Nehiin, das ist nun auch wieder zu schwer! Oder warte- ich probier´s mal." Ich stehe im hüfthohen Wasser in der Therme und werde von meinem Sohn gecoached, ihn zu unterstützen, während er sich das Schwimmen beibringt.

Zu schreiben "und bringe meinem Sohn das Schwimmen bei" wäre schlichtweg falsch. Denn genau das passiert gerade nicht. Klar kann ich schwimmen, und ich habe auch versucht, etwas vom Frosch und von Brustbeinschlägen zu erzählen aber diese Information wurde von meinem Sohn nur mit mildem Interesse zur Kenntnis genommen.

Hier passiert gerade etwas anderes, viel spannenderes:

Er taucht, die Beine schlagen dabei in alle Richtungen aus, um unter Wasser zu kommen. Er bekommt die kleine Rakete zu fassen und bringt sie zurück an die Wasseroberfläche. "Mama! Es hat geklappt, hast du es gesehen?" wir strahlen einander an. Ich liebe diese Momente wo ich tief spüren kann, dass meine einzige Aufgabe jetzt ist, seine Begeisterung zu teilen. Es ist nicht nötig, ihn zu Loben oder anzufeuern. Das was er tut ist in sich lohnend genug. Sein Strahlen berührt mein Herz. Er sieht, das ich es gesehen habe. Mein Bezeugen und der Spiegel seiner Begeisterung in meinen Augen machen ihn satt. Lässt ihn sofort zu seiner Forschung zurückkehren: "Mama, jetzt will ich mit Dir ans andere Ende schwimmen". Das ist keine Selbstverständlichkeit. Ohne Schwimmflügel eine Premiere und das Wasser an manchen Stellen zu tief zum Stehen. Doch irgend etwas in ihm hat diese Aufgabe als nächste Stufe gewählt. Langsam beginne ich durch das Wasser zu schwimmen, mit ihm ganz nah neben mir. In mir taucht das Bild einer Seekuh auf, die bedächtig durch das Wasser treibt, ihr Junges ganz nah bei sich. Es ist etwas sehr archaisch säugetierhaftes darin, das Kleine zu begleiten. Neben mir schnappt er nach Luft und klammert sich an meine Schulter. Seine Schwimmbewegungen sind noch nicht genügend ausgereift, um ihm das Atmen an der Wasseroberfläche zu erleichtern. Doch nach dieser kurzen Vergewisserung, dass die rettende Seekuhinsel nah genug neben ihm treibt, lässt er wieder los, und probiert es von Neuem alleine. Es gab an diesem Nachmittag noch einige Spiele oder "Trainingsstufen" inclusive vom Beckenrand springen. Am Ende des Badetages konnte er schwimmen. Alleine. Ohne Schwimmflügel. In mir war eine feierliche, fast ehrfürchtige Dankbarkeit für die Intelligenz des Lebens. Keine Schwimmschule und am wenigsten ich selbst hätten ihm das besser oder effektiver beibringen können. Vor allem nicht mit so viel Spass.

Was ist das für ein Lernprozess, der sich, so scheint es, in der Evolution entwickelt hat und für uns- sofern er nicht gestört wird- frei zur Verfügung steht? Es ist etwas, das Moshe Feldenkrais als "Organisches Lernen" bezeichnete. Es ist das, was uns als Krabbelkinder das Wunder des aufrechten Gangs gelehrt hat und das, was Kinder tun, wenn sie ungestörten Raum haben, um zu Spielen. Es ist ein "sich das Leben spielend aneignen", das eigenen Gesetzen folgt. Diese unterscheiden sich in drastischer Weise von dem, was wir gemeinhin mit Lernen in Verbindung bringen:

1. Selbst gewählt

Die Motivation, sich mit einem Thema zu beschäftigen, entsteht von selbst im Inneren. Es wird etwas gelernt oder erforscht weil es einen eigenen Drang dazu gibt.

2. Spaß

Es wird sich so lange mit einer Weise mit dem Thema beschäftgt, wie es Spaß macht und interessant genug ist.

3. Pausen

Wenn es nicht mehr interessant ist wird eine Pause gemacht oder das Spiel so abgewandelt, dass es wieder interessant wird.

4. Intrinsische Motivation

Lob oder Anfeuern stören diesen sensiblen Prozess und können ihn im schlimmsten Fall zum Erliegen bringen wenn der Focus vom Inneren weg gezogen wird und sich stattdessen darauf richtet, mehr Lob zu bekommen.

5. Herausforderung

Im Spiel wird kreativ dafür gesorgt, dass die Aufgabe herausfordernd genug aber gerade noch zu meistern ist.

6. Nonlinearität

An ein Ziel wird sich variantenreich auf den unterschiedlichsten Wegen angepirscht. Niemals würde sich angestrengt oder mit zusammen gebissenen Zähnen versucht werden durch Üben einen Erfolg zu erreichen.

7. Bezeugung

Dabei ist es hilfreich ein Gegenüber zu haben, was die eigene Begeisterung teilt

8. Geborgenheit

Etwas Neues zu Wagen kostet Mut und ist aufregend. Das Nervensystem braucht dabei immer wieder das Erleben, sicher und geborgen zu sein. Von diesem sicheren Halt aus und aus der Entspannung heraus kann man sich-im wahrsten Sinne- auf zu neuen Ufern zu wagen.

In FELDENKRAIS Stunden kreieren wir einen Rahmen, in dem diese Elemente Organischen Lernens erfüllt sind und wir damit- auch als Erwachsene- wieder Zugang finden können, zu der spielerischen Weisheit, die in unseren Körpern und Nervensystemen steckt. Oft ist es dabei ein Lernprozess, sich diesem natürlicheren Lernen ganz zu öffnen, da die meisten von uns Erwachsenen doch die Spuren einer sehr anderen Lernkultur in uns tragen. Oder wer erlaubt sich schon, nur so weit zu gehen, wie es sich wirklich gut anfühlt? Oder dem zu folgen, was leicht geht und Freude macht? Ich glaube, dass unsere Kinder genau wissen, was sie lernen wollen, und dass sie sich genau das beibringen, was das Leben sie lehren möchte. Wenn sie die Rahmenbedingungen vorfinden in denen sie sich ungestört ganz ihrem spielerischen Interesse widmen können.

Was wenn jede Generation ihre ganz eigenen Lernaufgaben hat? Unsere Welt ändert sich so schnell, wie sollen wir da didaktische Programme entwickeln, die unsere Kinder auf die Aufgaben ihrer Zeit vorbereiten?

Die gute Nachricht ist: wir können es nicht. Wir brauchen es auch nicht.

Solange wir beiseite treten mit dem Gedanken das Lernen unserer Kinder in irgendwelche Bahnen lenken zu müssen und ihnen stattdessen als präsentes Gegenüber liebevoll und im Respekt vor ihrem tieferen Wissen zur Verfügung stehen, werden sie sich das Leben im Spiel einverleiben.

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